Ausgrabungen in Verden / Aller
Hohes und spätes Mittelalter:
Das mittelalterliche Verden war von einer Stadtmauer umgeben. Die Norderstadt wurde schon um 1210, die Süderstadt erst später befestigt. Mehrere Stadttore ermöglichten den Zugang. Wer aus Richtung Bremen kam, passierte das Nordertor. Reste der Fundamente wurden jetzt bei Bauarbeiten angeschnitten. Ab 1790 wurden die Stadtmauer, die Stadttore und Türme zum Abriss freigegeben; mit dem Erlös aus dem Verkauf der Ziegel füllte die Stadt die Stadtkasse auf. Deswegen ist heute keines der Stadttore mehr oberirdisch erhalten, nur die Mauer ist an mehreren Stellen noch in Resten vorhanden. Aufgrund alter Stadtpläne ist die Lage der Tore aber bekannt. Bei den Planungen für einen Regen- und Schmutzwasserkanal in der Großen Straße wurde deswegen von vornherein einkalkuliert, dass Reste des Nordertores aufgedeckt werden könnten und ausgegraben werden müssten. Die baubegleitende Untersuchung wurde im Februar und März 2011 von dem Grabungstechniker J. Geidner, ArchaeoFirm, geleitet und mit personeller Unterstützung durch die Archäologische Denkmalpflege des Ldkr. Verden durchgeführt. J. Geidner ist für seinen umsichtigen Einsatz sehr zu danken. Am weitesten stadteinwärts fand sich bei der Ausgrabung ein Fundament aus großen Findlingsblöcken, die teilweise bis zu 0,5 m lang waren (Abb. 276 F). Die Außenseite des Fundaments wurde auf 4 m Länge beobachtet, die Breite konnte nicht festgestellt werden, da der Grabungsausschnitt zu klein war. Diese Findlinge, die nur noch eine Lage hoch vorhanden waren, könnten das Fundament des Torturmes gebildet haben. In ihrer Verlängerung Richtung stadtauswärts war eine Mauerecke zu erkennen. Hier war auf dem Findlingssockel drei Ziegellagen hoch aufgehendes Mauerwerk erhalten (Abb. 277). Sollten die beiden Teile tatsächlich zusammengehören, käme man auf eine Seitenlänge von 7,5 m für den Torturm. Da nur eine Torwange angeschnitten, aber nicht einmal vollständig freigelegt wurde, kann keine Aussage über die Breite der Durchfahrt gemacht werden.
Vor den Turm wurde stadtauswärts eine Mauerzunge gesetzt, die nun nicht mehr auf Findlingen, sondern auf Ziegelbruch gründet (Abb. 277). Sie ist 1,5 m hoch erhalten und wird auf der anderen Straßenseite ein Gegenstück gehabt haben, sodass dem Torturm ein Vorbau vorgelagert war. Seine Länge konnte nicht ermittelt werden. Anscheinend wurde diese Mauerzunge außen mit mindestens einer Mauervorlage verstärkt, die sich nach oben verjüngt. Der Vorbau bindet – so weit das anhand des kleinen Ausschnittes zu beurteilen ist – nicht in das Mauerwerk des Torturms ein, dürfte also nicht zum ursprünglichen Bauwerk gehören.
Die Stadtmauer schloss direkt an das Tor an, ihr war stadtauswärts ein Graben vorgelagert, der zwischen 1842 und 1850 verfüllt wurde. Sowohl die Mauer als auch der vorgelagerte Graben wurden bei der Baumaßnahme nicht angeschnitten. Auf der Stadtseite befand sich vor den Resten des Torturms ein zwei Steinlagen starkes Kopfsteinpflaster, dessen Ausdehnung ebenfalls nicht ermittelt werden konnte, denn die Befunde waren durch vorangegangene Baumaßnahmen bereits stark gestört.
Insgesamt betrachtet war der ausgegrabene Ausschnitt sehr klein und nicht am Befund, sondern an der Baumaßnahme orientiert. Deshalb ist es nicht möglich, zu einer abschließenden Deutung zu gelangen. Trotzdem sollen ein paar Vorschläge gemacht werden. Das Aussehen des Verdener Nordertors ist relativ gut bekannt. Mehrere Stadtpläne und Stadtansichten aus verschiedenen Jahrhunderten zeigen den mächtigen Torturm. Auf einer Stadtansicht von 1633 hat er ein Satteldach und einen Treppengiebel. Stadtauswärts schließt sich ein offener rechteckiger Vorbau an (Abb. 278). Anscheinend sind an diesem sogar zwei sich verjüngende Pfeilervorlagen dargestellt. Das deckt sich gut mit dem archäologischen Befund. Der Vorbau gehört wahrscheinlich nicht zur ursprünglichen Form des Tores im Mittelalter und existierte möglicherweise auch nur kurze Zeit, denn ein Stadtplan von etwa 1760 zeigt ihn schon nicht mehr. Auf einem Gemälde, das nach 1816 entstand, ist der Ratsfischteich vor dem Nordertor dargestellt. Das Nordertor – ohne Vorbau – hat hier ein Zeltdach, das mit Dachziegeln eingedeckt ist, und ist auf drei Ebenen mit rundbogigen Fensteröffnungen oder Schießscharten versehen.
Eine halbwegs realitätsgetreue Nachbildung des Nordertors, etwa als Grundriss im Straßenbelag, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt trotzdem nicht möglich. Es fehlen alle Anhaltspunkte für die Breite und die Gesamtlänge der Anlage, außerdem lassen sich die hier vorgeschlagenen Deutungen nicht verifizieren. Es ist geplant, auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Kanal neu zu verlegen. Vielleicht bietet sich dort die Gelegenheit, weitere Erkenntnisse über das abgerissene Nordertor zu gewinnen.
F, FM: Arch. Denkmalpflege Ldkr. Verden / ArchaeoFirm J. Precht
Quelle: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte, Beiheft 16, Fundchronik Niedersachsen 2011